22.2.2021 / WEISSER RING und Bundesministerium für Inneres luden am europäischen Tag der Kriminalitätsopfer zu einem Online-Symposium.
Der europäische Tag der Kriminalitätsopfer stellt einmal jährlich die Frage in den Mittelpunkt, wie es Opfern von Straftaten psychisch, physisch und finanziell geht. Auch heuer gestalteten WEISSER RING und Bundesministerium für Inneres – wie schon seit zehn Jahren – an diesem Tag ein Symposium. Aufgrund der Pandemie fand die Veranstaltung erstmals online statt. Dieses Mal drehte sich alles um die Frage nach dem „Zugang zum Recht für Kriminalitätsopfer“. Die Vorträge können noch zwei Wochen lang bis zum 8. März 2021 im Internet abgerufen werden.
Hürden, die das Wahrnehmen von Opferrechten erschweren
Kriminalitätsopfer verfügen in Österreich nach Strafprozessordnung und Verbrechensopfergesetz über vielfältige Rechte. Viele davon sind in der EU-Opferschutz-Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt grundgelegt. Allerdings erschweren tatsächliche und rechtliche Hürden Opfern oftmals den Zugang zum Recht. Das Symposium vertiefte ausgewählte Aspekte dieser vielschichtigen Materie.
Udo Jesionek, Präsident WEISSER RING, wies in seiner Eröffnungsrede auf die Vielfalt der in den vergangenen zehn Jahren behandelten Themen hin, um sich dann auf eine der zentralen Forderungen des WEISSEN RINGS zu konzentrieren: „Die Polizei leitet gemäß § 56 Abs. 1 Z 3 SPG in allen Fällen, in denen Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden, die Daten an die zuständigen Interventionsstellen bzw. Gewaltschutzzentren weiter. Eine analoge Bestimmung für Opfer situativer Gewalt fehlt trotz des ausdrücklichen Auftrags von Artikel 8 der EU-Opferschutz-Richtlinie nach wie vor. Dadurch erfahren viele Betroffene zu spät oder gar nicht von ihren Rechten. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Ich hoffe sehr, dass dieses Symposium dazu beiträgt, dass sich hier etwas bewegt!“
„Die Arbeit für und mit den Opfern von strafbaren Handlungen ist ein essenzieller Teil der Polizeiarbeit. Die Rechte von Opfern dürfen nicht statisch bleiben, sondern müssen stetig weiterentwickelt werden – in einem permanenten gesamtgesellschaftlichen Prozess. Die Sicherheitsakademie des Innenministeriums wird daher auch in Zukunft einen Ausbildungsschwerpunkt für den Umgang mit Opfern von Straftaten setzen, um dieses bedeutende Thema nachhaltig in der täglichen Polizeiarbeit weiter zu entwickeln“, so Karl Nehammer, Bundesminister für Inneres. Er nutzte die Gelegenheit auch, um sich für die Arbeit der Opferunterstützungs-Einrichtungen und das so geschaffene Netzwerk an Hilfestellungen zu bedanken.
„Ein respektvoller und einfühlsamer Umgang mit Opfern von Gewalttaten und eine umfassende und zeitgemäße Opferbetreuung und Opferentschädigung sind mir als Sozialminister ganz besonders wichtig“, betonte Rudolf Anschober, Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, in seiner Grußadresse. „Ich glaube, Österreich verfügt tatsächlich über gut zugängliche und wirksame Instrumente zur Unterstützung von Opfern. Allerdings bleibt es auch in Zukunft geboten, über weitere Anpassungen und Verbesserungen nach zu denken und sich für deren Umsetzung einzusetzen.“
„Die Opfer sind es, deren Leben sich durch das Verbrechen dramatisch verändert, sie jahrelang belasten kann und ihnen unendlich viel Kraft abverlangt“, wies Susanne Raab, Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration, in ihrem Statement auf die Belastung hin, die eine Straftat für das Opfer bedeutet und forderte: „Jede Frau hat ein Recht auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben. Genauso, wie jedes Kind ein Recht darauf hat, in einem gewaltfreien Umfeld sicher aufzuwachsen.“ Außerdem betonte sie die Wichtigkeit des niederschwelligen Zugangs zum Recht für Verbrechensopfer, weil jeder Mensch seine individuellen Besonderheiten mitbringe, die auch tatsächliche Hürden beim Zugang zum Recht darstellen können.
Die Fachveranstaltung
Natascha Smertnig, Geschäftsführerin WEISSER RING, unterstützte in ihrem Statement die Forderung von Udo Jesionek: „Eine zentrale Frage ist, wie Opfer von Straftaten überhaupt davon erfahren, dass es mit dem WEISSEN RING eine Stelle gibt, an die sie sich wenden können.“ Da geht es einerseits um die Weiterleitung von Informationen, die es dem WEISSEN RING ermöglichen, mit Betroffenen in Kontakt zu treten. Andererseits geht es darum, den WEISSEN RING und seine Rolle in der Opferarbeit besser im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. „In diesem Zusammenhang kommen seit kurzem die aufrüttelnden Fotos des Künstlers Mahir Jahmal zum Einsatz, die uns auch durch den Tag der Kriminalitätsopfer begleiten. Sie verleihen dem Begriff „Opfer“ eine völlig neue Dimension.“
Lyane Sautner, Univ.-Prof.in und Vizepräsidentin WEISSER RING, bot in ihrem Vortrag einen Einstieg ins Thema und stellte klar, was unter Zugang zum Recht zu verstehen ist: „Zugang zum Recht ist eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Verfahrensrechten, eine Ermächtigung zur prozessualen Selbstbestimmung ohne Unterschied der finanziellen Leistungskraft, der Bildung oder des gesellschaftlichen Status.“ Auch sie betont, dass Zugang zum Recht zuallererst Kenntnis über die eigene Rechtsposition voraussetzt. Notwendig und sinnvoll seien in vielen Fällen rechtskundiger und psychosozialer Beistand im Verfahren – unabhängig von der wirtschaftlichen Situation Betroffener. Mehr zum Thema
Dolmetschleistungen als wesentlicher Beitrag
Monika Stempkowski, Universität Wien, und Ivana Havelka, Universitäten Wien und Neuchâtel, beleuchteten die Dolmetschleistungen für Opfer im Strafprozess aus transdisziplinärer Perspektive. Dolmetscher*innen ermöglichen im Gerichtssaal nicht nur die Kommunikation. Sie ermöglichen nichtdeutschsprachigen Opfern den Zugang zum Recht. Damit leisten sie einen Beitrag zum Funktionieren des Rechtsstaates. Monika Stempkowski und Ivana Havelka fordern: „Der Einsatz von allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher*innen im Strafverfahren ist zu gewährleisten. Nur sie können den Anforderungen dieses hochkomplexen Kommunikationsauftrags gerecht werden.“ Mehr zum Thema
Erlittene Traumata als Hürde
Thomas Wenzel, Univ.-Prof. Medizinische Universität Wien, ging in seinem Vortrag der Frage nach, inwiefern erlittene Traumata am Wahrnehmen von Opferrechten hindern können. Das Wissen um die Tatsache, dass schwerwiegende Belastungserfahrungen, insbesonders schwere Verbrechen, sexuelle Gewalt und Missbrauch auch bei psychologisch widerstandsfähigen Opfern zu schweren psychologischen Langzeitfolgen führen können, hat sich in den letzten Jahrzehnten erst langsam durchgesetzt. Deshalb hält Thomas Wenzel fest: „Für Verbrechensopfer ist der respektvolle Umgang während Verfahren und Begutachtung zur Vermeidung von Retraumatisierung und die Implementierung von verbindlichen Standards wie MEDPOL und Istanbulprotokoll von wesentlicher Bedeutung.“ Mehr zum Thema
Einschränkung der Objektivität
Susanne Schmittat, Universität Linz, beleuchtete in ihrem Vortrag, inwiefern das Aussageverhalten von Opfern, das in der Realität des Strafverfahrens häufig eine zentrale Rolle spielt, zu Verzerrungen in der gerichtlichen Entscheidungsfindung und damit zu einer Einschränkung der Objektivität führen kann. Denn „Zugang zum Recht bedeutet auch und besonders Zugang zu einem objektiv geführten Verfahren“. Sie hält fest: „Psychologische Mechanismen, die bei der Beurteilung von Aussageverhalten im Hintergrund ablaufen, können die Objektivität juristischer Entscheidungen einschränken.“ Mehr zum Thema
Ankündigung: VOR 10
In Kooperation mit dem StudienVerlag Ges.m.b.H. befindet sich Band 10 aus der Schriftenreihe Viktimologie und Opferrechte (VOR) des WEISSEN RINGS in Vorbereitung. Zu dieser Publikation werden neben den Vortragenden dieses Symposiums noch weitere Expert*innen beitragen. Als Herausgeber*innen agieren Lyane Sautner und Udo Jesionek.
Zum Tag der Kriminalitätsopfer
In Erinnerung an die Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme im Jahr 1986 wird der 22. Februar europaweit als „Tag der Kriminalitätsopfer“ begangen. Ziel dieses Tages ist es, auf die persönliche, gesellschaftliche und rechtliche Situation von Betroffenen aufmerksam zu machen.
Im Jahr 2011 fand anlässlich dieses Tages erstmals ein gemeinsam von Bundesministerium für Inneres und WEISSEM RING veranstaltetes Symposium statt. Mehr zum Thema
Fotocollage: @BMI
oben: Udo Jesionek, Susanne Raab, Rudolf Anschober, Karl Nehammer
Mitte: Natascha Smertnig, Lyane Sautner
unten: Monika Stempkowski, Ivana Havelka, Thomas Wenzel, Susanne Schmittat
Berichte zum Tag der Kriminalitätsopfer 2021
Website des Bundesministeriums für Inneres